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Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft

Tandem lud zum zweiten Fachforum „Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft“ nach Brünn (11.-13.04.2019) – Eine persönliche Reflexion 

Ich nehme gerade meinen Platz im Brünner Theater Husa na provázku ein. Hier beginnt das Fachforum der Koordinierungszentren Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch mit dem Titel „Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft“. Neben mir wird fließend Tschechisch gesprochen und ich fühle mich in meine Zeit als Erasmus-Studentin in Budweis zurückversetzt. Ich kann die Gesprächsfetzen nur teilweise verstehen. Trotzdem kommt mir die Sprache vertraut vor. Gar nicht so, als wäre ich im Ausland. Diese Sprache ist zu einem Teil Heimat für mich geworden.

Von meinem Platz aus habe ich einen perfekten Blick runter zu den anderen Teilnehmer_innen und auf die Bühne. Ganz vorne sehe ich die mir bekannten Gesichter. Es sind „meine Kollegen und Kolleginnen“ von Tandem, die noch eifrig Fragen der Teilnehmer_innen beantworten. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als mir mein Sitznachbar einen Kopfhörer für die Dolmetschung reicht. Die Dolmetschung soll während der Veranstaltung mein kleines persönliches Highlight werden. Wie wahnsinnig konzentriert müssen diese Dolmetscher_innen sein, um ganze Reden und Vorträge simultan sowohl auf Deutsch als auch auf Tschechisch zu übersetzen? Und das Wort für Wort und für jeden verständlich. Dabei kommt mir der Gedanke, dass wohl gerade das ein internationales Fachforum ausmacht. Sprache soll nicht Barriere sein.

Schon der erste Programmpunkt, das deutsch-tschechische Kabarett „Das Thema“, zeigt Geschichte ganz gut. Die Darsteller und die Darstellerin erzählen von Momenten ihrer eigenen, zum Teil unglaublichen Geschichten. Diese Persönlichkeit verleiht dem Stück einen ganz eigenen Charme. Ich bin begeistert, und das nicht nur vom Inhalt, sondern von der gesamten Präsentation. Nach dem Theater hat jede_r die Möglichkeit, noch selbst die Stadt bei Nacht zu erkunden. In Brünn bin ich nicht das erste Mal. Trotzdem fühlt es sich jedes Mal anders an. Ich kann mich an so viele Kleinigkeiten nicht mehr erinnern. Aber mir gefällt diese Stadt. Sie hat Charakter und macht der Hauptstadt Prag in meinen Augen ordentlich Konkurrenz.

Am darauffolgenden Tag beginnt das Fachforum mit Professor Dr. Michele Barriccelli. Zu Anfang habe ich die Befürchtung, es könnte ein komplexer Vortrag, aus dem ich nur wenig mitnehmen kann, werden. Ich sehe auf die Uhr: Kurz nach halb neun, das werden bestimmt lange 15 Minuten, denke ich. Als ich dann das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es Viertel nach neun und ich kann es nicht glauben. Dieser Mann hat meine komplette Aufmerksamkeit gepackt und mich mit seinen Worten gefesselt. Man kann nicht anders als ihm zuhören und seine Worte aufsaugen. Als ich in die Runde blicke, scheinen auch alle anderen gebannt an seinen Lippen zu hängen. Somit ist dies wohl nicht meine längste Viertelstunde, sondern vielmehr sind das meine kürzesten 45 Minuten seit Langem.

Ein weiteres Highlight an diesem Tag ist für mich der Vortrag von Šárka Jarská (Živá paměť). Sie und ihre Kolleg_innen haben eine Onlineplattform erstellt, auf der Lebensgeschichten von NS-Zwangsarbeiter_innen eingesehen werden können. Bei diesem Workshop habe ich die Gelegenheit, echte Erzeugnisse von Zwangsarbeiter_innen in Händen zu halten. Ein seltsames Gefühl. Eigentlich sind es ja nur ein Stück Faden oder einfach nur eine Schnur. Trotzdem bewirken diese Stücke so viel Traurigkeit in mir. Was mich am meisten bewegt, ist ein alter Bierdeckel, der mit einer Nachricht und einer NS-Briefmarke versehen ist. Weder die Schrift, noch die Sprache auf dem Bierdeckel kann ich verstehen. Aber allein das Wissen, dass er von einem oder einer Zwangsarbeiter_in für eine Botschaft raus in die „normale Welt“ genutzt wurde, löst bei mir ein beklemmendes Gefühl aus.

Der Nachmittag besteht unter anderem aus einer Führung durch das Muzeum romské kultury in Brünn. Die Kultur der Roma, oder auch Sinti, wie die aus Deutschland Stammenden bezeichnet werden, war mir bisher kaum bekannt. Wiederum bekannt waren mir die Vorurteile gegenüber dieser Minderheiten. Jede_r kennt sie. Zwangläufig stelle ich mir die Frage: Wieso? Wieso ist das so? Warum gibt es Vorurteile gegenüber Menschen oder ganzen Gruppen, die man nicht einmal kennt? Von denen man nichts weiß. Die genauso sind wie ich oder meine Kommiliton_innen an der Uni. Das Museum gibt auf meine Fragen keine Antworten, aber ich meine verstanden zu haben, dass es Denkanstöße geben möchte bezüglich der Tatsache, dass Vorurteile eine unsichtbare Barriere darstellen. Nicht nur gegenüber Roma oder Sinti, sondern gegenüber allen Gruppen jenseits der (vermeintlichen) Mehrheitsgesellschaft.

Am letzten Tag gibt es die Möglichkeit, in Praxisrunden verschiedene Projekte zum Thema des Fachforums zu sehen. Von Theaterpädagogik bis hin zum deutsch-tschechischen Planspiel zur Förderung von Demokratie und Toleranz. Das Feld ist weit und damit gestaltet sich meine Entscheidung schwierig. Da ich mich aber schon seit dem Gymnasium für Theater interessiere und selbst spiele, will ich die Vorstellung von Čojč und A BASTA! zu dem Projekt „Schwanenmostek – Labutíbrückl: Grenzlandkultur 1938 revisited“ nicht verpassen. Mir war davor nie klar gewesen, wie man mit Sprache spielen kann. Wörter wie „Halloj“ oder „Dankujeme“ sind für mich als Studentin der Sprach- und Textwissenschaft natürlich sehr interessant. Aber mich beeindruckt vor allem, wie begeistert die Jugendlichen, die an diesem Projekt teilgenommen haben, waren.

Am Ende der Veranstaltung versuche ich zu reflektieren und alles zu verarbeiten, was ich gesehen, gespürt und gelernt habe. Aber es sind nicht nur die Workshops oder die Praxisbeispiele, die mich nachdenklich machen und von denen ich etwas mitnehme. Es sind vor allem die Menschen, die man während der Pausen oder am Abend trifft und mit denen man diskutiert. Ich denke, das ist die beste Art des gemeinsamen Erinnerns. Zu hören, zu verstehen und mit anderen den Austausch zu wagen. Gemeinsam in eine Richtung zu schauen führt zu einer gemeinsamen Zukunft.

Von Julia Vollbrecht 

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